Wie das Buch "Juda" entstand

Wie das Buch „Juda“ entstand

Nein, was der Schriftsteller sich nicht alles an Fragen gefallen lassen muss — ich glaube , die Mehrzahl der Leser macht sich kaum eine klare Vorstellung davon!

Da will einer wissen , ob seine Verse den Druck vertragen, und legt einige Kilo Lyrik als Probe bei. Ein junges Mädchen, dem es auf dem väterlichen Landgute allzu einsam wird, hat den Entschluss gefasst, heimlich durchzubrennen, und ich soll sagen, wie man sowas am besten macht. Eine Weichkäse-Fabrik bittet um ein Reclame-Gedicht — sie zahlt zwei Kisten ihrer „Specialmarken“ dafür. Eine alte Lehrerin „fordert energisch Aufklärung“, warum ich die Lebensgeschichte der Rahab verändert habe, die doch als Stamm-Mutter Christi sich das nicht gefallen zu lassen brauche. Wiederholt fragen Leute: „Ist es wahr, dass Sie zum Judenthum übertreten wollen?“ Und das sind nicht fingierte Fragen, es ist eine kleine wörtliche Auswahl aus meinen Briefen!

Aber es kommen auch andere Briefe, verständigen und ernsten Inhaltes. Wie viel Unbekannte haben mich nicht neulich, als mich die „Staatsbürger-Zeitung“ anpöbelte, trösten wollen, und wie oft bin ich nicht gefragt worden, wie eigentlich dies Buch entstanden sei, von dem in den ersten 20 Tagen mehr wie eine ganze Lyrikauflage (600 Exemplare) verkauft wurden, und das in derselben Zeit 13 lange Feuilletons besprachen — abgesehen von den kleineren Kritiken — und so besprachen.

Ja, wie das Buch „Juda“ entstand, das ist eigentlich eine lange Geschichte. Die ersten jüdischen Balladen schrieb ich vor acht Jahren als Secundaner, und seit der Zeit hat mich der wundervolle Zauber jener alten Herrlichkeit, die pathetische Pracht der Geschichte des alten Volkes nicht mehr losgelassen. Ganz allmählich entstanden in diesem langen Zeitraume die Gedichte, die ich noch 1898 in ein dickes Gesammtmanuscript meiner Verse einstreute, ohne an eine Sonderausgabe zu denken.

Da lernte ich in Berlin, wo ich damals für mein Referendar- und Doctor-Examen arbeitete, [[E. M. Lilien]] kennen, und ihm verdanke ich den eigentlichen Anstoss zu dem Buche. Er hat sich sehr für die Gedichte begeistert und sagte mir: „Die statte ich aus, einerlei ob meine Zeichnungen je gedruckt werden, nur aus Liebe zur Sache.“ Da beschlossen wir, ohne einen Verleger und ohne die geringste Aussicht auf einen solchen, das Buch, stellten Titel und Format fest, und ich sammelte und überarbeitete zum erstenmale alle meine jüdischen Gedichte . So ist das Buch also nicht gemacht, sondern entstanden, und darum trägt es auch die Spuren seines langsamen Werdens. „Jerusalem“ steht neben „Jeruschalajim“ — natürlich nicht im
selben Gedichte — und anderes mehr.

Bald darauf lernten wir den Verleger F. A. Lattmann-Goslar kennen, den wir seither beide als eine wahre Perle seines Berufes erkannt haben. Ein rühriger, betriebsamer Charakter, ein vortrefflicher Geschäftsmann vereinigt sich in ihm mit einer immer gleichen fröhlichen Liebenswürdigkeit gegenüber „seinen Künstlern“, und er hat nie Nein gesagt, wenn Zeichner oder Autor einen Wunsch für das Buch hatten.

Und nun fieng die eigentliche Arbeit Liliens an, während ich nur den „Simson“ noch fertig schrieb.

Ephraim Mose Lilien, weisst Du noch, lieber Freund, wie eng uns dies Buch zusammengeführt hat?! Denkst Du noch der gemeinsamen Arbeit und des gemeinsamen Geniessens?

Es war auf unserem Thüringer Schlosse Windisch-Leuba. Ein helles Giebelzimmer oben neben dem Thurme war dem Zeichner hergerichtet, neben seinem Zeichentische stand mein Schreibtisch. Weit offen die Fenster, Kartoffelfeuer rauchten durchs Thüringerland, und ihr Duft zog ins Zimmer. Auf den Wiesen und Feldern sangen fern die Kinder, und unten im Schilfe des Wallgrabens spectakelten die Rohrspatzen. Im Schlosse alles ganz still, kaum dass ein Schritt die Wendeltreppe herunterhuschte und sich in dem Kreuzgange verlor, kaum dass mal verschlafen die Wetterfahnen kreischten. Und in die Arbeit hinein erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten, die eine voll von unverdientem Leid, voll von Kämpfen, die andere eine einzige grosse Erfüllung jedes Wunsches…

Nach dem gemeinsamen Mittagstisch — Lilien war nicht nur mir, sondern auch meinen Eltern und Geschwistern ein lieber Gast — giengs dann heraus ins Land, immer mit der photographischen Camera bewaffnet. Fra, was haben wir nicht alles getypt! Das alte Schloss von allen Seiten mit allen Thürmen und Erkerchen, die Pflüger auf den Feldern und die wandernden Musikanten im engen Hofe! Und wenn wir in die Weite radelten und Du Dich über die reichen Schönheiten des gesegneten Landes begeistertest, wenn wir durch die Wälder strichen — es war eine köstliche Zeit, ein reifer, klarer Herbst voll von Fröhlichkeit und voll von künstlerischer Arbeit.

So wurde Blatt für Blatt fertig. Die letzten zeichnete Lilien in Berlin, als schon die ersten gedruckt wurden.

Wie aber das einzelne Gedicht entsteht, das ist schwer zu sagen, wenigstens für mich. Es ist ein Kern, eine Stimmung da, andere schiessen an wie Krystalle, einige fallen ab, eine fortwährenee Bewegung, ein Fliessen, und auf einmal ist es eben da. Der „Simson“, den ich (man verzeihe das Urtheil in eigener Sache) für meine beste Ballade halte, hat mir viele Monate Mühe gemacht. Ich wollte einmal den „Helden“ nicht nur stark und edel, die „Heldin“ nicht nur sinnig und minnig darstellen, wie das sonst die Ballade that. So arbeitete ich nach dem Buche der Richter die Charaktere aus; ihn, den prahlerischen, etwas eitlen Athleten, indiscret und dem Weibe gegenüber völlig machtlos. Sie eine jener Naturen, in denen sich Sinnlichkeit und Grausamkeit seltsam mischen. Von den drei Frauengestalten in Simsons Leben — mit der eisten und dritten war er verheiratet — wählte ich die mittlere, die Dirne aus der Philisterstadt Gaza, nur so liess sich die Handlung rund schliessen, nur so eine innere Beziehung zwischen Anfang und Ende knüpfen. Als Form nahm ich die zuerst von mir gebaute Strophe, in der zwei Reime das strophische Charakteristikum bilden. Sie ist die einzige Strophe (nicht nur der deutschen Sprache), die unbeschadet ihres straffen Baues eine beliebige Ausdehnung von vier bis zu beliebig viel Zeilen zulässt. Wer ein Ohr dafür hat, dass innere und äussere Einheit (Gedanke und Strophe) sich decken, und wer da weiss, wie verschieden gross die inneren Einheiten einer Handlung (die einzelnen Handlungsmomente) sind, wird den Wert einer derartigen Strophe für das erzählende Gedicht verstehen. Im einzelnen habe ich die Ausdrucksmittel stark stilisiert, entsprechend meiner Vorliebe für pathetische, getragene Ausdrucksweise gegenüber der saloppen, unsoignierten vieler Moderner. Auch etwas wie ein Leitmotiv (des Mädchens) wird der sehr aufmerksame Leser finden und wird auch den Grund desselben in der Blindheit Simsons erkennen.

Aber wie gesagt, all diese schönen Theorien legt man sich nachher zurecht, eigentlich ist alles ein instinctives Finden, Erfinden, Tasten und Probieren.

Der Wunsch aber, den ich zum Schlüsse meinem Buche, wie allen meinen Büchern, mitgegeben habe, heisst: Mögen die Leser die gleiche Freude beim Lesen haben , wie ich sie im Schaffen empfand!

Börries Freiherr von Münchhausen.

Die Welt (Wien), 5. Jahrg., 3. April 1901, Nr. 14, S. 21-22. Online