Weit pikanter...

Weit pikanter ging es in der „Freitag-Vereinigung“ zu, einer für gewöhnlich im Verborgenen blühenden privaten litterarischen Herrengesellschaft, die sich in ihrer von Damen nicht gestörten Verborgenheit bisweilen Programme erlauben darf, die für die „Freie litterarische“ ausgeschlossen sind. Solch ein Programm wies der letzte Freitag auf: Schnitzlers „Reigen“ (Interpret: Marcell Salzer) und Maria Eichhorn-Dolorosas Flagellanten-Lyrik, gelesen von ihr selbst. Der „Reigen“ ist in Wien zwar verboten, aber doch wohl nicht unbekannt. Man sollte aber lieber gleich die beliebte Tätigkeit selbst verbieten, die Schnitzler in jedem seiner Dialoge durch Gedankenstriche andeutet. Das hieße wenigstens das Uebel mit der Wurzel ausrotten, während jetzt die Moralitätsräte allerorten die Folgeerscheinungen und insbesondere die literarischen Verherrlichungen jener Tätigkeit vergeblich zu inhibieren suchen. Gelänge das Generalverbot, dann gäbe es keine naturalistische Litteratur mehr, keine Eheirrungen, keine Rekruten, keinen Ausgleichsstreit, keine… – doch ich begebe mich das auf Gebiete. die einen Bühnenbriefsteller nicht das mindeste angehen, und ich kehre lieber reuig zum „Reigen“ zurück, der sehr munter, sehr graziös, sehr rhythmisch, aber doch nicht ganz so zwingend lebendig ist, wie ich es Schnitzler wohl zugetraut hätte, wenn er sich erst an solch ein skabröses Thema machte. Salzer las die kleinen Szenen mit rühmlicher Virtuosität, gleich glücklich im Technischen, wie als Charakteristiker.

Und nach diesen beiden Meistern, dem schaffenden und dem reproduzierenden, wagte sich Frau Eichhorn-Dolorosa auf das Podium, deren Verse gewiß nicht schlecht klingen, auch ein gewisses Maß echter Leidenschaft zu enthalten scheinen, deren Talent aber lange nicht stark genug ist, um die widerwärtige „Spezialitat“, die Frau Dolorosa munter ausschrotet, vergessen zu machen. Nil humani a me alienum puto, aber daß die Dame die erotischen Vergnügungen, die sie der – Peitsche verdankt, immer und immer wieder besingen muß, scheint mir denn doch ein starker und vor allem ein schlechter Spaß. Dabei wird man den Verdacht nicht los, daß Madame nur deswegen derlei dichtet, weil sie die gegenwärtige „Konjunktur in Masochismns“ (ein auihentisches Wort von ihr!) lyrisch ausnützen will. Ihre Vortragsart war nämlich so fabelhaft gleichgültig, ungeschickt und langweilig, als wären ihr alle diese kleinen Prügelpoëme im Grunde herzlich gleichgültig. Das würde der Frau alle Ehre machen, der Litteraturspezialistin aber nicht. Im übrigen läßt die schmerzhafte Lyrikerin, die sich brillant auf die Reklame versteht, neuerdings urbi et orbi verkünden, daß sie demnächst Fabriksarbeiterin werden wolle, um Studien zu einem Roman zu machen. Hoffentlich sieht sie bei dieser gesunden Arbeit dem Leben gerade ins Gesicht. Die Kehrseiten des menschlichen Daseins hat sie lange genug betrachtet.

Dr. Erich Eisenach

Der Humorist (Wien), 23. Jahrg., 1. Dezember 1903, Nr. 34. Online