Morris Rosenfeld in Wien

Morris Rosenfeld in Wien

Die „Gesellschaft für Sammlung und Kon­servierung von Kunst- und historischen Denkmälern des Judentums“ bot am 21. Oktober den Wiener Juden einen hohen Genuß. Sie veranstaltete-zu Ehren des dort weilenden berühmten Sängers der „Lieder des Ghetto“ einen Abend, an welchem Morris Rosenfeld selbst und Adolf Ritter von Sonnenthal das zahlreiche Publikum durch Vortrug obiger Gedichte entzückten. Schriftsteller Heinrich Glücksmann sprach über Rosenfeld und seine Dichtungen. Gewaltig, bis ins Innerste erschütternd ist.die Tragik, die Rosenfeld in wunder­volle Verse kleidet; überwältigend der wilde Schmerzensschrei, der sich seinem zerrissenen Herzen ent­ringt. Es ist das eigene, grausame Schicksal, das persönlich erlebte Leid, von dem uns der Dichter so ergreifend erzählt, seine eigene Seelenpein. „Er dichtete, was er erlebte. Keine fremde Literatur hat ihm die Muster geliefert, kein Meister hat ihn Vers und Reim gelehrt: Ein armer Schneidergeselle, ein hungernder Jude, der in schlaflosen Nächten ein Poet wurde, ohne daß er es wollte oder mußte — durch die harte Gnade der Not“, schildert ihn Berthold Feiwel, sein deutscher Interpret.

Frühzeitig lernte Morris Rosenfeld die Un­bilden des Daseins kennen. Armer Leute Kind, verließ er als Achtzehnjähriger sein Heimatsdorf Bokscha in Russisch-Polen und kam nach Holland. Hier erlernte er die Diamantschleiferei, doch duldete es ihn nicht lange bei diesem Berufe. Er ging nach London. Drei Jahre lang schuftete er da als Schneidergeselle nach dem berüchtigten Schwitz-System für einen Hungerlohn, bis es ihn auch von hinnen trieb. Er wandte sich nun nach Arnerika. Doch auch in New-York blieb ihm das Glück abhold, auch hier erhellte kein Strahl seinen sinstren Leidensweg. Wie in London war er auch hier genötigt, in den entsetzlichen Sweat-Shops zu ro­boten, bis seine Kräfte erlahmten und er zusammenbrach. Nichts blieb ihm erspart, alle Bitternisse des Lebens mußte der zum Leiden Geborene aus­kosten. Eine schwere, tückische Krankheit warf ihn aufs Krankenlager und der Tod entriß ihm sein einziges hochbegabtes Kind. So folgte Schlag auf Schlag.

All dieses herzzerbrechende Weh durchzittert Rosenfelds Gedichte, und aus diesem Leid, aus diesen körperlichen und seelischen Qualen stammt die Verbitterung und die Leidenschaft, mit der sich der Dichter gegen die kapitalistischen Ausbeuter, gegen die reichen Blutsauger wendet. Rosenfeld ist durch und dnrch Proletarier, und wenn er auch vornehmlich seinen eigenen Jammer beklagt, so ist er darum doch der Dichter seiner Millionen Leidens­ genossen, des jüdischen Volkes.

Wie gefeiert heute Rosenfeld wird, bezeugt die Begeisterung, die er überall weckt, wo er nur weilt. Auch an diesem Abende wurde er von nicht endenwollendem Jubel umbraust. Und gar als Sonnenthal einige der dramatischen Gedichte Rosenfelds zum Vortrage gebracht, mit einer Innig­keit und Wärme, wie es nur das Empfinden dieses Meisters imstande ist, brach ein geradezu frenetischer Beifall los.

Heute reicht Rosenfelds Ruhm über den ganzen Erdball. In allen Sprachen erklingen heute seine Lieder. Nach den langen Jahren der bittersten Not und Entbehrung geht endlich auch für ihn die Sonne des Glücks auf; möge sie ihn fortan in immer glänzenderer Pracht erstrahlen.

z.

Jüdische Volksstimme (Brünn), 9. Jahrg., 1. November 1908, Nr. 31, S. 3. Online