"Lieder des Ghetto"
Von [[Börries Freiherr von Münchhausen|Börries, Freiherr von Münchhausen]]
Mein Kind hat einen kleinen Bruder bekommen, und ich bin nicht sein Vater. Kann ich also gerecht gegen den Jungen sein? Mein Buch „Juda“ hat einen Nachfolger, einen Nebenbuhler gekriegt. Und über diesen Nebenbuhler soll ich heute, wenige Tage vor seiner Geburt, vor seinem Erscheinen, reden und zwar gerecht reden. Ein lieber Freund von mir, [[E. M. Lilien]], der schon „Juda“ damals so glänzend ausgestattet hat, hat auch diesem Buche ein prunkvolles Gewand angezogen, — kann man denn überhaupt gegen einen Freund gerecht sein. Und endlich: Kann denn überhaupt ein Buch, die Frucht langer Jahre, heissen Ringens, unendlicher Arbeit, langwierigster Vorbereitungen in der kurzen Zeit, die mir hierzu vergönnt ist, ganz gerecht genossen und verstanden werden?
Da hat der Leser eine Auswahl von den Bedenklichkeiten, die eine solche eilige Kritik mit sich bringt. Ich bitte deshalb im voraus um Entschuldigung, wenn mein Urteil dem einen zu scharf, dem anderen zu milde erscheint. Ich bin stolz, dass die Künstler des Werkes und die Redaktion dieses Blattes gerade mich um die ersten Geleitsworte gebeten haben, und glaubte deshalb die Besprechung nicht ablehnen zu dürfen.
Morris Rosenfeld, der Dichter dieser Lieder ist ein Jude, heimatlos wie verwehtes Laub, geschlagen mit dem ganzen grossen Fluche seiner Rasse. Russland, Polen, England, Amerika, das sind die Stationen seines Leidensweges. Die dumpfigen Arbeitssäle der grossen Fabriken, die Sweat-Shops, sind das Milieu, in dem sich sein Leben und seine Gesänge abspielen. Aber unter dem Drucke der Not wurde ein Dichter aus dem „Cheder“-Jungen, dem Diamantschleifer, dem Fabrikarbeiter, und seiner Gedichte wertvollste vereinigt dies Buch. Und nun ziehen die Lieder ins Land, gekleidet wie Fürstenkinder durch die Kunst eines unserer ersten Zeichner, während ihr Schöpfer vielleicht nicht das Geld hat zu einem Rocke vom Althändler.
Proletarierlieder sind Rosenfeld’s Dichtungen überall, im guten und im schlechten Sinne. Wundervoll sind die Strophen des Eingangsgedichtes:
Mein Lied
O glaubt, kein goldenes Instrument
Stimmt meine Kehle zum Singen,
O glaubt, kein Wink von oben lässt
Meiner Leyer Saiten erklingen.
Der Sklave, der seufzt und der Sklave, der stöhnt,
Der weckte in mir die Lieder,
Und flammend erwacht in mir ein Sang
Für meine armen Brüder.
Dafür vergeh ich vor meiner Zeit,
Dafür verbrauch ich mein Leben,
Was können mir für einen Dank
Die armen Leute geben?
Sie geben für Thränen: Thränen her,
Sie können nicht anders mich lohnen. —
Ich bin ein Thränenmillionär
Und beweine die Millionen!
Vielleicht fühle ich als Nichtjude empfindlicher das Spezifisch-jüdische in diesen Versen, das verunglückte Bild der ersten, das charakteristische der letzten Zeilen. So geht es mir oft in dem Buche. Und doch kann ich mich des Zaubers nicht erwehren, der über seinen Seiten liegt. Wie ergreifend ist das jüdische Lied „Rosinen und Mandeln“ ins Milieu gestellt:
Rosinen im Lied und im Stübchen kein Brot!
Wie prächtig ist der grausige Gedanke:
Wenn den [Arbeiter], — ob früh, ob spät
Die Arbeit erschlägt, sitzt ein andrer da
Und näht und näht und näht.
Wie weich und wehmütig ist die Klage des Arbeiters, der sein Kindchen immer nur schlafend sieht, da ihn tags die Arbeit fern von der Heimat festhält. Wunderschön sind auch die Zeilen:
Sieh, Saron blüht, es grünt der Karmel,
Vom Libanon grüsst junger Schnee,
Durch weiche Lüfte ziehen Lieder,
Und alles lebt so schön wie je!
wobei ich ausdrücklich auch an Berthold Feiwel, dem feinsinnigen Uebersetzer, mein Kompliment mache. Besonders lieb sind mir endlich die Gedichte: Das Messen der Gräber, Sephirah, Jom Kippur, vqr allem aber das auch ganz vollendet übersetzte: „Laubhüttenfest vorbei,“ dem ich nur eine deutsche, wirklich deutsche Ueberschrift wünschte! Völlig fremd sind mir Dichter und Zeichner da, wo sich die sozialen Gedanken demokratisieren. Mir ist das Judentum immer nur als das stolze, aristokratische Judentum vertraut gewesen. Hier finde ich plötzlich ein plebejisches, ich finde Ideen und Verse, so sozialdemokratisch und so unendlich wirkungslos durch die harmlose Unkenntnis des Schreibenden, dass ich erstaunt war. Man höre die Strophe:
Dort wo im falschen Kleid der Sittsamkeit und Reinheit,
Die Protzen — Prunksucht dient den Lüsten der Gemeinheit,
Dort singt man am Klavier von Euch: Die Herren klatschen,
Und aufgeputzte Frau’n froh in die Händchen patschen,
Dort glänzt Ihr [die Blumen] auf der Brust der stolzen, eitlen Schönen,
Ihr müsst des Uebermuts geschliffnen Spiegel krönen.
Ich will an die Alexandriner nicht den Massstab feinerer Aesthetik legen, will nicht fragen, was ein „falsches Kleid“ ist, und seit wann man einen Spiegel „krönt“ — die Verse sind auch ohnedem herzlich schlecht. Aber das sind immer einzelne, und in dem starken Bande verlieren sie sich. Die Mehrzahl der Gedichte ist gut, wobei ich ausdrücklich die Möglichkeit eines verfehlten Bildes als Spezifikum des jüdischen, wie jedes fremden Jargons innerhalb eines guten Gedichtes zugegeben haben will. Es sind wahr und warm empfundene Lieder, die in der Brust aller derer, die unter gleicher Fron seufzen, ein lautes Echo finden werden, Lieder eines Proletariers, eines von vielen verachteten geringen Arbeiters. Aber wie im deutschen Märchen im Kopfe der missachteten Kröte ein verborgener Edelstein eingewachsen ist, so ist auch in dieser dunklen Seele ein hell erglänzender Diamant verborgen , die grosse Sehnsucht nach Zion, die uralte Wehmut der Worte „Leschanah Habaah . . . . !“, die zitternde Saite einer wahrhaften Kunst.
Der Uebersetzer ist den Schwierigkeiten des Jargons vollauf gewachsen gewesen. Er hat die schwierigste Kunst des übertragenden Künstlers geübt: nichts hineinzutragen. Er tritt mit vornehmem Takt hinter seinem Originale zurück und hat in seiner Vorrede eine zum Verständnis des Buches unumgänglich nötige, feinsinnige und ebendige Einleitung geschrieben. Zuletzt der Zeichner. Es ist ein Buch, wie alle Lilien’schen Bücher für die auserlesene Bücherei der am feinsten Geniessenden geschaffen, in Papier, Druck und üppiger Fülle so überaus stattlich, dass es in der Bibliothek keines gebildeten Juden fehlen darf.
Wieder, wie im Buche „Juda“, umgeben ornamentale Rahmen die Seiten. Aber während dort das sich natürlich in Ranken und Rahmen legende pflanzliche Motiv vorherrschte, hat Lilien hier bisweilen ornamentale Rahmen aus Gegenständen geschaffen, die ihm fast unlösbare Schwierigkeiten boten, in einigen Fällen sogar ganz unlösbare. Ein Rahmen ist ein Schmuckstück, wie ein Halsband. Kann man ein Schmuckstück aus Rosen und Disteln, aus Blättern und Ranken herstellen? Ja! Kann man ein Schmuckstück aber auch aus Zwirnrollen und Scheren, Centimetermass und Nähnadeln herstellen? — Mir ist der betreffende Rahmen auch zu unruhig, ich höre keinen Zusammenklang der vielen Linien. Der aus Maschinenteilen und Werkzeugen der Eisenarbeit hergestellte ist dagegen ein gelöstes Problem. Einmal bieten Hammer, Zange und Zirkel schon im einzelnen konstruktivere Schönheiten, wie etwa Fingerhut und Zwirnrolle, und dann ist auch ihre Zusammenfassung zu Gruppen, wie ich glaube, ausserordentlich geglückt. Es ist eine ruhig und ziemlich gleichmässig wirkende Tapete geschaffen, ein Plein, auf dem die Schrifttafel wie ein Bild hängt. Auffallend schön ist ein Rahmen aus Schneesternen, von grosser heraldischer Wirkung einer mit den Wappen der Stämme Israels. Die liebsten sind mir aber nach wie vor die pflanzenornamentalen.
Unter den Vollbildern sind wahre Perlen zeichnerischer Kunst. Wir, die wir den Juden fast nie als Arbeiter, sondern nur als Handelsmann und Unternehmer sehen , sind zwar zunächst frappiert über einige Blätter, auf denen die gegenteilige soziale Anschauung niedergelegt ist, doch mag das ja anderwärts anders sein. Wundervoll ist der Kopf eines alten Drechslers, von strenger, fast an Dürer gemahnender Technik. Rahmen und Raum füllen hier stilisierte Hobel spähne von grosser Wirkung. Auch ein Plätter ist prächtig gesehen, und über das ganze Blatt ist ein feines Spinnweb gebreitet — die graue Not. Eine Spinne, von grausiger Phantasie geschaffen, saugt oben in der Ecke einer Biene das Blut aus, welkes Herbstlaub hängt überall in den dünnen Fäden. Das ist ganz Lilien! Eine schwermütige, tiefe Symbolik, verklärt und emporgehoben durch das Mittel starker Stilisierung. Ein mir persönlich besonders sympathisches Blatt stellt eine wunderschöne Frau vor, auf deren Knieen die Leyer ruht, während oben im Reigen der Sterne die Sphärenharmonien erklingen. Ein weiteres Blatt zeigt einen Knaben von der schwermütigen Schönheit seines Stammes. Noch hängt ihm sein Himmel voll goldener Sterne, noch steigen die weissen Lilien rein und keusch vor ihm auf. Aber das Herz, das sich um ihn schliesst, ist abermals aus Dornen gebildet — selbst in den Frieden dieses Kinderbildnisses, selbst in seine Sterne und Lilien trägt der Künstler das düstere Symbol, das ihm vor allem lieb ist. Nachholenderweise will ich zu dem zugehörigen Gedichte „Mein Kind“ bemerken: Das Arbeiterkind, das Rosenfeld schildert, hat einen grossen Wunsch. Von diesem Wunsche spricht sein Vater, der es bei Nacht aus dem Schlafe weckt, und auch die Mutter berichtet als sehnsüchtige Worte des Knaben die unten angeführten Zeilen. Was ist nun dieser Wunsch? Im deutschen Märchen wäre es die Königstochter, in deutschen Landen wäre es ein Spielzeug, vielleicht ein Helm, oder eine Peitsche. Bei Rosenfeld berichtet die Mutter:
Wie nett er spricht! Wie klug er fragt!
„O Mama, gute Ma,
Wann kommt und bringt ein Penny mir
Der gute, gute Pa? . . . .“
Das sind grelle Schlaglichter aut die sozialen Kreise, die der Dichter schildert. Selbst den Kindern ist schon Geld das liebste, — die armen Kinder! Aber man versteht, dass es Kreise sind, von denen Morris Rosenfeld sagen kann:
„Wir sind ja nur Juden und haben kein Geld!“
Ich will nicht alle Vollbilder hier durchsprechen. Bei manchen wird dem Zeichner zum Vorwurf gemacht werden, dass er sich allzusehr an das Buch „Juda“ angelehnt, dass er sich wiederholt habe. Ich möchte ihn schon heute gegen diesen Vorwurf verteidigen. Zwei Bücher, die wie diese in ganz ähnlichen Stoffgebieten liegen, müssen auch in der Ausstattung grosse Aehnlichkeiten haben. Du lieber Gott, die Zahl der Symbole ist eben keine unbeschränkte! Davidswappen, Menorahleuchter und Chanukkalichter, die segnenden Hände der Leviten, — das sind schon fast alle! Und es ist geradezu bewunderungswürdig, wie innerhalb dieses Stoffgebietes die Phantasie Liliens hundert neue Kombinationen und Motive gefunden hat.
Alles in allem sind die „Lieder des Ghetto“ ein Buch, das jeder mit weihevoller Andacht in die Hand nehmen, keiner ohne tiefe Eindrücke aus der Hand legen wird. Dem Buche und den Künstlern ein herzliches „Glück auf!“
Ost und West, 2. Jahrg. November 1902, Nr. 11, Sp. 757-764. Online