Jüdische Kunst

Mit besonderer Berücksichtigung der Maler Lesser Ury und E. M. Lilien

Von Dolorosa

Die Kunst hat in ihren Anfängen bei allen Völkern das Bestreben, die Gottesidee zu veranschaulichen und den Kultus zu verherrlichen. Ersteres verhinderte Moses durch ein strenges Verbot (Exod. 20, 4) und entzog damit der rein religiösen bildenden Kunst die Existenzmöglichkeit. Dagegen ließ er der Kunst bei der Ausschmückung des Tempels ziemlich freien Spielraum und gestand dadurch der nationalen bildenden Kunst eine Berechtigung zu. Aber die Kunst vermochte sich in so engen Grenzen nicht zu entwickeln; zudem war das Nationalgefühl der alten Israeliten so eng mit ihrer Religion verknüpft, daß eines ohne das andere undenkbar ist. Wir machen daher die Beobachtung, daß die jüdische bildende Kunst zu einer Zeit, wo das religiöse Gefühl die herrlichsten Blüten nationaler Poesie zeitigte, ihre sämtlichen und Formen den umwohnenden Völkern entlehnt. Die Architektur ist von den Phöniziern abhängig. Die Einteilung und Einrichtung des salomonischen Tempels ist zwar in der Bibel ziemlich unklar beschrieben; doch stellt die Beschreibung der berühmten ehernen Säulen Jachin und Boas, von Hiram von Thyrus konstruiert, außer Zweifel, daß der phönizische Stil maßgebend war. Der nämliche phönizische Künstler erbaute auch Salomons Palast.

Die altjüdische Skulptur imitiert die persische. Die vergoldeten Cherubim im Allerheiligsten, die als menschliche Körper mit vier Flügelpaaren ausgeführt waren, sowie die Löwengestalten im Königspalast waren persischen Modellen nachgebildet. Nationale Eigenart zeigen nur die pflanzlichen Ornamente, die den in Palästina heimischen Laub- und Blumenarten nachgebildet sind. Teils als Reliefs, teils als Erzeugnisse der Kunstweberei, fanden diese Ornamente zum Schmuck der Wände, Geräte, Teppiche und Gewänder eine originelle, dekorative Verwendung.

Nach dem zweiten Tempelbau bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung macht die jüdische Kunst gar keinen Anspruch auf Eigenart und zeigt ausschließlich späthellenische Formen.

Die Zerstreuung der Juden in alle Teile der Welt ließ dann Jahrhunderte lang keine künstlerischen Bestrebungen aufkommen. Erst als die jüdischen Gemeinden, durch die christliche Mitwelt ins Ghetto verbannt, sich eng zusammenschlossen, da regte sich in dem zertretenen Volke von neuem die scheue Blüte der Kunst; und die zarte Pflanze wurde in den Gemeinden liebevoll gepflegt. Die Ungunst der äußeren Verhältnisse ließ zwar ein großes, befreiendes Kunstschaffen nicht aufkommen, doch
entstand eine feine und sinnige Kleinkunst. Es bildeten sich die schönen, charakteristischen Lettern der hebräischen Schrift in ihrer jetzigen Form aus. Die Handschriften der heiligen Bücher wurden mit kunstvollen Miniaturgemälden versehen; zugleich waren die Bildner der heiligen Geräte und Gewänder mit andächtiger Sorgfalt bemüht, neuartige nationale Kunstformen zu schaffen.

Aber eine nationale Kunst braucht, wie Martin Buber sagt, eine einheitliche Menschengemeinschaft, aus der sie stammt und für die sie da ist. Es können für die Kunst keine Lebensbedingungen willkürlich geschaffen werden; denn sie wächst mit der fortschreitenden Volksentwickelung.

Vor wenigen Jahrzehnten noch erschien eine national-jüdische Kunst undenkbar. Es gab bedeutende Künstler israelitischer Abstammung – ich erinnere an Israels und Liebermann – ohne daß diese ihr Können in den Dienst ihres Volkes gestellt hätten. Aber es gärte im jüdischen Volke; die jungjüdische Bewegung brauchte nur ein äußeres Ereignis, um auf allen Gebieten ein frisches, fröhliches Schaffen zu beginnen. Diesen Anstoß gab der Zionismuss.

Der Zionismus verfolgt neben seinen politischen Zwecken auch das ideelle Ziel, das Nationalgefühl der Juden zu wecken und zu stärken. Es ist interessant zu beobachten, wie die zionistische Bewegung, die anfänglich mit einiger Ablehnung behandelt wurde, unter den Israeliten immer mehr Anhänger gewinnt und auch bei den Christen lebhaften Sympathien begegnet. Denn kein Unparteiischer, der für Rasseeigentümlichkeiten und ethnologische Feinheiten Verständnis hat, kann einer öden Assimilation das Wort reden.

Unter den zeitgenössischen jüdischen Künstlern sind mehrere, welche die nationale Idee mit Feuer und Liebe aufgriffen. Sie sind die ersten Apostel einer hebräischen Kunst, die sich hoffentlich in der Zukunft ohne allen Zwang kräftig und eigenartig entfalten kann.

Unter ihnen sind besonders markante Erscheinungen der Bildhauer A. Nossig, der Radierer Hermann Struck, die beiden Maler Lesser Ury und E. M. Lilien. Auf die beiden letzteren will ich näher eingehen.

Der Lebensgang und die künstlerische Entwickelung dieser Maler hat viel Aehnlichkeit. Beide haben in der Jugend gegen das Schicksal hart anzukämpfen, beide bahnen sich allen Widerwärtigkeiten zum Trotz fast ganz autodidaktisch ihren Weg. Aber künstlerisch gehen ihre Ziele auseinander; Ury ist ganz Kolorist, Lilien ganz Plastiker.

Lesser Ury kam 1887 nach Berlin und begann sein Schaffen überaus hoffnungsvoll. Seine „Bildhauerwerkstätte“ war die erste Probe seines ans Unglaubliche grenzenden Farbensinnes; aus dem einfachen Milieu eines Bildhauerateliers holt er die fabelhaftesten koloristischen Töne heraus. Leider ist Urys Zeichentechnik unbeholfen; dieser Mangel, dem Lesser Ury in all den Jahren nicht abhelfen konnte oder wollte, läßt keinen ungetrübten Genuß an seinen Bildern aufkommen. Am empfindlichsten ist dieser Mangel in dem Monumentalgemälde „Jerusalem“, das Anfangs der neunziger Jahre entstand. Eine Gruppe trauernder Juden auf den Trümmern Jerusalems; und im Hintergrunde das leuchtende Meer… Eine aroße und gewaltige Idee ist hier verkörpert. Das ist mehr, als eine Anzahl von Ghettotypen; das ist eine schmerzhafte Geschichte des ganzen Golus, die der Künstler und der Jude leidenschaftlich mitempfindet. – Urys Dreigemälde „Der Mensch“ ist weniger bekannt. Hier sind drei große Abschnitte des Menschenlebens: Jüngling, Mann, Greis; auch hier keine Zeichnung, aber Farben, Farben… In eine wahre Farbenextase ist Ury geraten bei dem Teil des Gemäldes, welcher den Jüngling in einem sonnendurchfluteten Frühlingswalde zeigt; dies ist wol [sic!] die überschwänglichste Lichtorgie, die der Impressionismus in Deutschland hervorgebracht hat.

Ury ist ein Nervenmensch, ein Stimmungskünstler, der jede Stimmung, die in seiner Seele klingt, in Farbenwerte umsetzt. So sind seine reizvollen, farbenprächtigen Landschaften entstanden. Jch sah in Urys Atelier solche aus Thüringen und Schwaben, aus Tirol und vom Gardasee und aus Neapel. Der Mangel an Zeichnung wird bei diesen kleinen, anmutigen Pastelllandschaften wenig empfunden; das bunte, reiche Kolorit, das leidenschaftliche Versenken in die Wunder | des Lichtes deckt diesen Fehler zu.

Von Zeit zu Zeit wird Ury, wie ein Kritiker treffend sagt, „von einem monumentalen Furor gepackt.“ Bei einer solchen Gelegenheit malte er vor einigen Jahren „Adam und Eva,“ sein Lieblingsbild, wie er mir sagte. Das erste Menschenpaar ist hier nicht als ein Paar willenloser Träumer gedacht; dies sind stolze, trotzige junge Menschen, die tatendurstig in die sonnenglühende Welt ziehen.

Aber das tiefste Werk seines Lebens ist das herrliche, schreckliche Bild „Jeremias.“ Wir sehen einen kahlen Berggipfel, auf dem ein Mensch liegt, ein Mann, aber dieser Einsame hat nichts Menschliches mehr mit seinem Volke gemein. Wie ein wildes, rauhes Felsstück ist der Prophet in die erhabene Nachtlandschaft hineingebettet. Lesser Ury hat hier das Unglaubliche, wohl nie Dagewesene vollbracht, ein rein figürliches Problem rein landschaftlich zu lösen. Und wenn man das erste Entsetzen über diese wildgenialische Kühnheit überwunden hat, dann bekommt das ganze Bild allmählich eine andere Bedeutung; die Gestalt des Jeremias wird nicht mehr erdrückt von der riesengroßen Nacht, sondern die blaue Finsternis wächst im Gegenteil ins Ungemessene, Endlose, und hüllt den schmerzzerrissenen Einsamen in ihre dunkelblauen, sternfunkelnden Schleier ein.

Nur seinem Schaffen hingegeben, steht Leſsser Ury der Welt und dem Leben fremd gegenüber, wie ein Träumender; er lebt einzig und allein in Farben; die tausend Nuancen und Stimmungen des Kolorits empfindet er mit fast krankhaft verſeinertem künstlerischem Empfinden. Von ihm, der am Ende der Dreißig steht, ist noch manches Neue und Eigenartige zu erwarten und man darf gespannt sein auf sein nächstes größeres Werk, das den Moses darſtellen wird.

Ganz anders als Künstler ist Efraim Moses Lilien. Er ist der Seher der Form, der Plastiker par excellence, obwol [sic!] er sich zum künstlerischen Ausdruck nur der chinesischen Tusche, des Pinsels und der Zeichenfeder bedient. Aus einer achlichten jüdiachen Handwerkerfamilie in Drohobycz in Galizien hervorgegangen, hat der junge, sympathische Künstler alles, was er erreicht hat, nur seiner eigenen zähen Energie zu verdanken. E. M. Lilien begann seine künstlerische Laufbahn damit, daß er bei einem Schildermaler in Lemberg in die Lehre trat. Aber frühzeitig regte sich der Genius in dem begabten Jüngling und trieb ihn an, den engen Verhältnissen seiner Heimat zu entfliehen. Das Schicksal machte es ihm nicht leicht; mehrere Jahre lang kämpfte er heftig mit Not und Entbehrungen. Aber er blieb mutig und trotzig im Kampf, und er blieb Sieger. Seit 1899 lebt er in Berlin als einer der eigenartigsten und gesuchtesten Zeichenkünstler.

Die individuelle Eigenart von Liliens Zeichnungen liegt darin, daß an der formalen Behandlung der Körper, wie der Ornamente nichts gleichgültig oder unnütz ist, in der Idee nichts verborgen oder der Ahnung überlassen bleibt, sondern jede Form, jede Linie einem bestimmten, klaren Schönheitszwecke dient. Diese Eigenschaft nenne ich im unmittelbaren, wie im übertragenen Sinne plastisch. Die plastische Kunst hat einen doppelten Ausgangspunkt[.] Entweder sieht sie im Geist ein Ideal und sucht dieses mit formalen Hilfsmitteln zu verkörpern, oder sie ergreift die Wirklichkeit, durchgeistigt sie und steigert sie zum Ideal. Die letztere Schaffensform übt der Künstler Lilien. So bildet er Gestalten, die zwar genau nach den Gesetzen der Natur geschaffen, aber doch von allem Unwesentlichen und Zufälligen gereinigt sind und in ihrer ruhigen, graziösen Schönheit uns wie liebliche Wesen aus dem Olymp anmuten. Weit über die Grenzen von Deutschland hinaus bekannt sind vor allem Liliens Ex-libris, unter denen wieder das weitaus schönste des Malers eigenes Bücherzeichen ist. Vom tiefschwarzen Hintergrunde hebt sich zum Greifen plastisch der weiße, schlanke Leib einer eben erblühten Jungfrau ab. Das schöne Mädchen liest in einem Buch, dessen Umschlag hebräische Chiffern zeigt. Und um ganz prüde Seelen zu beruhigen, die etwa an der keus

Die Ex-libris Martin Breslauer, Karl Messer, Richard Fischer, sowie ein graziöses sog. Universal-Ex-libris, welches der Damenspende vom letzten Berliner Presseball beigefügt war, sind den Ex-libris-Sammlern wol [sic!] bekannt. In jüngster Zeit hat der Künstler drei neue Ex-libris geschaffen, von denen zwei speziell jüdischen Charakter tragen. Sehr erwähnenswert ist davon das Ex-libris für Ruben Brainin, den bekannten hebräischen Schriftsteller; es zeigt zehn seltsam schöne, rassige Judenköpfe, die zu einem dornenumkränzten Tableau vereinigt sind. Die andern beiden tragen die Namen Emil Simonsohn und Anna Braff.

Ein originelles und einheitliches Werk ist Liliens Buchschmuck zu den jüdischen Balladen des Dichters [[Börries Freiherr von Münchhausen|Börries von Münchhause]]n. Die uralten Symbole des israelitischen Gottesdienstes sind hier in der Verbindung mit geistvoll stilisierten Blumen, Palmen, Dornen, Früchten und anderen Motiven zu modern und dekorativ wirkenden Ornamenten geworden, welche den Text gefällig und sinnig umrahmen. Fast jedes der Gedichte ist von einem Kunstblatt begleitet, welches sich an den Text anlehnt, ohne ihn jedoch nur zu illustrieren. Bilder, wie die drei Blätter zu den „Gesängen des Jehuda,“ ferner „Also sprach Jesaja,“ „Königin Sabbath“, das Eingangsblatt des Buches „Passah“ und andere brauchen überhaupt nicht gelobt zu werden; sie reden selbst die Sprache des echten Genies. Das letztgenannte Blatt ist am meisten zionistisch gedacht. In einer idealen ägyptischen Landschaft ist da ein Judenkopf mit hoher, weißer Stirn, die der Jammer des Golus gefurcht hat. Die Augen blicken noch immer stolz und treu, aber sie sind trübe von Thränen. Ein schneeig schimmernder Bart fließt in edlen Wellen auf die Brust herab, und um das Pilgrimsgewand ranken sich Dornen. Aber am Himmel geht mit Strömen von Licht die Sonne auf, in der in hebräischen Lettern das Wort [], Zion, erscheint als das Ende der Sehnsucht und der Thränen. Dieser Greis ist nicht irgend ein Jude, sondern es ist der Jude; und zwar der Jude, der durch den Zionismus neu zu glauben und zu hoffen gelernt hat; das ist der Typus jener Israeliten, die gebeugt, aber nicht gebrochen durchs Leben gehen, in denen die Sehnsucht glüht bis an ihr Ende und die so ins Grab gelegt zu werden verlangen, daß sie noch im Tode nach Zion schauen.

Eine ganze Anzahl einzeln veröffentlichter Zeichnungen Liliens sind sehr populär geworden. Vielen Lesern des „Magazin“ dürfte zum Beispiel die entzückende Karte des Klubs der „Kommenden“ bekannt sein; diese Zeichnung stellt eine Steinbank dar, aus welcher ein verliebt lächelnder Faun herausgewachsen ist; das kleine Nixlein aber, dem seine Huldigung gilt, zieht ihm mit drolliger Verbeugung eine lange Nase.

Die jüdische Kunst setzt große Hoffnungen auf E. M. Lilien, der so vielversprechend angefangen hat und noch – der Künstler zählt erst siebenundzwanzig Jahre – im jugendlichen Alter steht. Ein Cyklus von 10 Zeichnungen, „Liebe“ betitelt, wird eine der nächsten größeren Veröffentlichungen des jungen Malers sein; ferner plant er die Herausgabe einer künstlerisch reich geschmückten Hagada.

Der Zionismus schreitet unaufhaltsam vor und bereitet der jungjüdischen Kunst die Wege; und im jüdischen Volke glimmt das Verlangen nach Kunstschönheit wie ein heimliches Feuer, das sich still vom Vater auf den Sohn vererbt hat. Die Kunst braucht nur zu kommen und von ihrem Reiche Besitz zu ergreifen.

Das Magazin für Litteratur, 71. Jahrg., 11. Januar 1902, Nr. 2, S. 11-13. Online