Einen Vortragsabend jungjüdischer Dichtungen veranstaltete ein kleines Comité von Schriftstellern und Künstlern, an ihrer Spitze der bekannte Zionist Berthold Feiwel, am 25. Februar im Architektenhause und bereicherte damit das litterarische Leben Berlins um eine interessante Erscheinung. Der Zweck dieses ersten Abends war, die zahlreich erschienenen Zuhörer mit der jüdischen Jargondichtung in ihrem Hauptvertreter Morris Rosenfeld bekannt zu machen. Der Jargon ist, so führte Herr Berthold Feiwel in einer anregenden Conférence aus, eine vollkommen ausgebildete und mit Unrecht verkannte Sprache. Aus dem Mittelhochdeutschen stammend, ist die jüdische Mundart mit hebräischen, slavischen und englischen Elementen durchsetzt, aber selbst in ihren Ausnahmen regelrecht grammatikalisch ausgebaut. Der Jargon hat bereits eine reiche Litteratur auszuweisen. Die eigenartigste Erscheinung unter den Jargondichtern ist Morris Rosenfeld. In einem litthauischen Fischerdorfe geboren, mußte Rosenfeld als Knabe die Heimat verlassen. In London fristete er durch das Schneiderhandwerk, später in Amsterdam durch die Diamantschleiferei kärglich sein Leben. Eine ungünstige Krise zwang ihn, nach Amerika auszuwandern, wo er in einer großen Schneiderwerkstätte unter Not und Entbehrungen ums Dasein kämpfte. Dort war es, wo er seine erschütternden sozialen Gedichte schrieb, von denen eine Probe hier mitgeteilt sei.
Mein Lied
O glaubt, kein gold’nes Instrument
Stimmt meine Kehle zum Singen.
O glaubt, kein Wink von oben läßt
Meiner Leier Saiten erklingen.
Dosh der Sklave, der seufzt, und der Sklave, der stöhnt,
Der weckt in mir die Lieder –
Und flammend erwacht in mir ein Sang
Für meine armen Brüder.
Dafür sterb‘ ich vor meiner Zeit,
Dafür verbrauch‘ ich mein Leben,
Was können mir für einen Dank
Die armen Leute geben?
Sie zahlen Thränen für eine Thrän‘,
Sie können nicht anders mich lohnen, –
Ich bin ein Thränen-Millionär
Und beweine die Millionen. . . .
Namhafte Gelehrte übersetzten Rosenfelds Dichtungen in verschiedene Kultursprachen, u. a. Prof. Jaroslav Vrchlicky ins Slavische. Die Uebertragung ins Deutsche ist durch Berthold Feiwel frisch und verständnisvoll besorgt. Die Herren Recitatoren Johannes Cotta und Gerhard brachten eine Anzahl dieser Uebersezungen mit lebendiger Wirkung zu Gehör.
Von anderen Vortragenden interessierten der Cellist Walter Lewy mit Kompositionen von Profesor Gernsheim („Elohenu“) und Max Bruch („Kol-Nidrei“) sowie die Altistin Otty Severa, die mit kleiner, aber sympathischer Stimme jüdische Volkslieder mit schwermütigen, syrisch-palästinensischen Melodien sang.
Die orginelle, wohlgelungene Veranstaltung läßt uns die nächsten „jungjüdischen Abende“, von denen zwei voraussichtlich noch in diesem Monat stattfinden, mit Interesse erwarten.
Das Magazin für Litteratur, 71. Jahrg., 15. März 1902, Nr. 11, S. 87. Online