Ein salomonisches Urteil
Vor vierzig Jahren war’s, in einer kleinen galizischen Stadt. Da begegnete Reb-Schmul dem Reb-Manasse.
„Schulem-aleichem“, sagte Reb-Schmul.
„Aleichem-schulem“, sagte Reb-Manasse.
„Wohin gehen Sie?“ fragte Reb-Schmul, und der Reb-Manasse antwortete:
„Wo werd’ich hingehen? Ich geh‘ nach Brody.“
Da hat der Reb-Schmul eine grosse Freude gehabt und war sehr beglückt über den Zufall, denn er hatte eine Bestellung nach Brody. Fünfzig Gulden wollte er seiner Frau schicken, der Esther, und der Post traute er nicht recht. Da bat er den Reb-Manasse, der Esther das Geld zu überbringen.
„Gern“, sagte der. Aber die Hälfte wollte er für die Mühe des Ueberbringens.
Ob er mescbugge sei? meinte der Andere. Einen Gulden wollte er geben. Manasse aber zuckte die Achseln. Er wollte was haben für
seine Mühe. Dem Reb-Schmul kam aber ein Gedanke. Er gab dem Reb-Manasse die fünfzig Gulden und sagte:
„Gieb der Esther so viel davon als Du willst.“
An seine Frau schrieb Schmul aber einen Brief: sie sollte sich nur an den Rabbi wenden, wenn der Reb-Manasse sie allzustark über’s Ohr hauen wollte.
Des letzteren Reise dauerte drei Tage. Er überbrachte der Esther in Brody die Grüsse ihres Gatten und erzählte ihr, wie ihm Schmul die fünfzig Gulden gegeben und dazu gesagt:
„Gieb der Esther so viel davon als Du willst!“
Und dann gab Reb-Manasse der Esther einen Gulden, denn neunundvierzig wollte er.
Die Esther schrie: „Räuber, Dieb, Betrüger! Gieb mir meine fünfzig Gulden!“
Reb-Manasse sagte: „Ich gebe Dir so viel, als ich will!“
Man ging zum Rabbi.
Der alte Graubart liess sich den Hergang der Sache erzählen, und haarklein berichtete ihm Reb-Manasse alles, zuvörderst das, was ihm Reb-Schmul gesagt: „Gieb der Esther davon so viel, als Du willst.“
Die Sache war schwer zu entscheiden. Der Rabbi strich lange seinen grauen Bart, und der armen Esther klopfte schon das Herz vor Angst. Aber endlich hatte der Rabbi seinen Spruch gefunden:
„Also sprich, Manasse, wie viel willst Du von dem Gelde?“
„Neunundvierzig Gulden, Rabbi.“
„Also gieb ihr so viel, als Du willst, die neunundvierzig Gulden, und behalte den einen Gulden für Deine Mühe.“
Der Reb-Manasse jammerte und schwor das Blaue vom Himmel, herunter, aber es half ihm nichts.
Noch heute loben die Juden in Brody die Weisheit des Rabbi Isaak-Hazadok, Isaak des Gerechten.
E. M. Lilien
Ost und West, März 1901, Nr. 3, Sp. 223-226. Online
Siehe auch: Berner Tagwacht, 26. September 1898, Nr. 95, S. 1. Online