Die "Jüdin" Dolorosa
Der Antisemitismus ist auf litterarischem Gebiete kein anderer, wie in der Politik. „Was ist des Anstoß spitzer Stein, — muß immer nur ein Jude sein“, das ist der Anfang und das Ende aller antisemitischen Klugheit. Es gehört zu den bevorzugten Scherzen der Antisemitenblätter, alle Persönlichkeiten, die ihnen irgendwie mißfallen, nicht etwa sachlich zu widerlegen, sondern sie einfach als „Juden“ zu bezeichnen und damit das Höchstmaaß ihrer mißfälligen Kritik zu bekunden. Das ist so System, und die unzähligen Reinfälle auf diesem Gebiete haben die blöden Fanatiker nicht klüger gemacht. Eine drollige Entgleisung passirte soeben wieder dem Berliner Hetzblatte der Pückler und Bruhn, das nach seiner köstlichen Entdeckung des wahren Geburtsortes der Sarah Bernhardt schon wieder das dringende Bedürfniß fühlte, sich zu blamiren. Das Hetzblatt bringt am 3 .Januar einen Leitartikel „Beschimpfung der christlichen Religion“, der sich mit dem im Verlage Lilienthal erschienenen Gedichtband “Confirmo te chrysmate“ von dem „jüdischen Dichter“ Dolorosa, einem Werk, das „eine gemeine, unsittliche, schamlose Beschimpfung einer christlichen Religionsgemeinschaft enthält“, beschäftigt. Es ist schön, sich sittlich zu entrüsten, aber es ist peinlich, wenn man dabei — von der Wahrheit abweicht und „vorbeihaut“. Dem jüdischen Dichter,“ dem warm empfohlen wird, „doch die Synagoge und die jüdischen Einrichtungen zum Schauplatz seiner Frivolitäten zu machen“, ist laut Kürschners Litteratur-Kalender eine junge Dame von 23 Jahren, namens Maria Eichhorn, deren Personale folgendermaßen ergänzt sei: Maria Eichhorn ist 1879 von christlichen Eltern geboren, christlich-katholisch getauft und in einem katholischen Nonnenkloster erzogen. Unter dem Pseudonym „Dolorosa“ hat sie in den letzten Jahren in vielen Zeitungen Beiträge veröffentlicht, und was das Lieblichste von Allen ist, die „jüdische“ Dolorosa ist auch Mitarbeiterin derselben „Staatsbürgerztg“ gewesen, die sie hier zum Manne und zum Juden stempelt. Aber was thuts, der nächste Christ, der der „Staatsbürgerztg“ nicht gefällt, wird doch wieder in einen Juden umgewandelt, denn das gehört einmal zum Geschäft.
Israelitisches Familienblatt (Hamburg), 6. Jahrg., 15. Januar 1903, Nr. 3, S. 3. Online