Da sang die Fraue Troubadour

Dolorosa: „Da sang die Fraue Troubadour“. Leipziger Verlag. G. m. b. H. Leipzig 1905. — Das ist die allermodernste Mischung des Modernen: Zionismus und Morphiumekstase. Man kann sich die Sängerin dieser schwülen Lieder nicht anders als mit be­maltem Gesichte wie eine der orientalischen Tanzsängerinnen vorstellen. Hier wird nur der Sinnlichkeit gehuldigt; Dolorosa sogt es ja selbst (Seite 19):

Rosen zittern am Rosenstrauch:
Pflückt sie der Gärtner nicht.
Läßt sich die Rose dem Fremdling auch.
Der sie nimmt und bricht.

Mit folgendem Motto vom alten LebenskUnstler Renan will Dolorosa ihren Standpunkt rechtfertigen: „Ge­danken, gut für diejenigen, die ihres edlen Sinnes wegen vor jeder sittlichen Gefahr geschützt sind, können für jene bedenklich werden, die durch Niedrigkeit der Gesinnung befleckt sind.“ Das Motto ist sehr hübsch, aber es paßt nicht zum Buche. Auch die Sinnlichkeit, sogar die schwüle, hat ihre relative Berechtigung in der Welt, aber nicht als ausschließlicher Gegenstand der Lyrik: sie wird dadurch um nichts edler als sie ist. Solche Lyrik ist nach dem Geschmacke von Greisen, die dem fröhlichen Spiele der Jugend nur noch reflektierend zuschauen können. Und mit je mehr Talent Gedichte solcher Art geschrieben werden, um so schlimmer.

Neues Wiener Tagblatt, 39. Jahrg., 2. Juli 1905, Nr. 180, S. 32. Online