Confirmo te chrysmate

Dolorosa: Confirmo te chrysmate. Berlin, M. Lilienthal, 1902 – Das am meisten gelästerte Gedichtbuch des letzten Jahres, gelästert nicht wegen künstlerischer Schwächen, sondern aus moralischen Gründen. Es ist ja wahr, Dolorosa ist die Sängerin einer kranken, der masochistischen Liebe. Aber genügt das, um sich moralisch zu entsetzen? Heute, wo das Lebenswerk Krafft-Ebbings vor uns liegt, heute, wo sich jeder eingermaßen Kritikberechtigte klar sein müßte, daß eine anormale Veranlagung nicht immer ein Zeichen bösen Willens ist. Professor Eulenburg ist in der Zukunft unumwunden für die Dichterin Dolorosa eingetreten und sein Wort wiegt wohl mehr als das Zetergeschrei der moralisch entrüsteten Federhelden all der Blätter und Blättchen, die Kunst und Moral immer noch nicht trennen können. Wenn Dolorosa nur eine Neuauflage der Marie Madeleine wäre, ich würde sie zuerst bekämpfen. Aber da gibt es kein überlegtes Getändel und kein berechnetes Kokettieren, kein Gespiele mit blauen und roten Bändern und duftenden Briefen und seidenen Spitzen und Unterröcken und Gott weiß was noch. Bei Dolorosa ist alles ernst und groß und feierlich, kein Getändel, keine Ueberlegung, nichts Demimondaines; da steht alles vor dem Leser als eine große Notwendigkeit, als die notwendige Aeußerung einer so eigenartig veranlagten leidenschaftlichen, krankhaften, unglücklichen, glücklichen Seele. Wenn man ohne Voreingenommenheit diese glühenden, blühenden Bekenntnisse liest, dann lernt man verstehen: Hier ist ein anderes Wesen als das deine, aber weil es ist, darum darfst du es nicht verdammen. Was ist das feige Sehnsuchtsgejammer und das fade Liebesgegirre aller der Dichterinnen gegen die Glut und Schönheit in Gedichten wie: le jardin des supplices, elevatio, confiteor u.a.? Es gibt heute wenig Frauen, die in ihren Versen über eine solche Kunst verfügen. Und ich bin überzeugt, wenn das moralische Moment nicht gewesen wäre, man würde heute Dolorosa mit Margarete Susman, Thekla Lingen, Margarete Beutler u. a. in eine Reihe stellen.

Otto Klimmer

Beilage zur Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 1903, Nr. 235, S. 111. Online